Viele chronische Erkrankungen sind schwierig zu behandeln. Hier konzentrieren wir uns auf acht wichtige Schmerzzustände mit einem hohen ungedeckten Bedürfnis bei Patienten und/oder medizinischen Fachkräften.

Unser Ziel ist es ausführliche Informationen über diese Erkrankungen zur Verfügung zu stellen - vom Krankheitsverständnis bis hin zu Behandlungsansätzen.

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Fibromyalgie

 

Die Kennzeichen von Fibromyalgie sind großflächige chronische Schmerzen, steife Gelenke und Begleitsymptome wie Stimmungsbeeinträchtigungen, Erschöpfung, kognitive Leistungseinschränkungen und Schlaflosigkeit.1,2 Ihre genaue Ursache ist noch nicht bekannt, sie kann jedoch mit rheumatoiden Erkrankungen, psychischen Störungen, Infektionen und Diabetes in Verbindung gebracht werden.1

 

Fakten im Überblick

  • Fibromyalgie ist die am häufigsten vorkommende großflächige Schmerzerkrankung; sie tritt öfter bei Frauen auf als bei Männern.3,4
  • Zu den Hauptrisikofaktoren für Fibromyalgie zählen Verwandte ersten Grades mit dieser Erkrankung5 sowie einige Autoimmunerkrankungen.6
  • Als Hauptgeschehen wird die zentrale Sensibilisierung angesehen.1 Eine gestörte Schmerzverarbeitung im zentralen Nervensystem (ZNS) führt zu einer erhöhten Empfindlichkeit für Schmerzreize (Hyperalgesie) und zu Schmerzempfindungen bei an sich nicht schmerzhaften Reizen (Allodynie).5
  • Ungefähr die Hälfte der Patienten mit Fibromyalgie weist eine Kleinfaserpathologie auf, was auf eine Beteiligung des peripheren Nervensystems hindeutet.7
  • Im Jahr 2010 entwickelte das American College of Rheumatology (ACR) diagnostische Kriterien für Fibromyalgie, die die Schwere der Begleitsymptome wie Erschöpfung oder Darmbeschwerden und das Ausmaß der großflächigen Schmerzen berücksichtigen.8

  

 
 
 
 
 
 
 
 
 

Epidemiologie

Fibromyalgie ist eine der häufigsten chronischen Schmerzerkrankungen. Sie tritt bei etwa 2 % bis 8 % der Bevölkerung auf2 bzw. verweist eine neuere Literaturauswertung auch auf eine etwas niedrigere Prävalenz zwischen 0,2 % und 6,6 %, wobei diese bei Frauen zwischen 2,4 % und 6,8 % höher ist als bei Männern.3 Im Vergleich zu Südamerika und Ostasien sind die Prävalenzschätzungen in Europa und den USA tendenziell höher.3

Obwohl 75 % bis 90 % der Betroffenen Frauen sind, kommt Fibromyalgie in allen ethnischen Gruppen auch bei Männern und Kindern vor.9-11 Man nimmt außerdem an, dass hier sozioökonomische Faktoren eine Rolle spielen. Schätzungen gehen von 0,69 % bis 11,4 % in Städten aus, verglichen mit 0,06 % bis 5,2 % in ländlichen Gebieten.3


 

Adaptiert nach Marques et al., 2017.3

Risikofaktoren

Fibromyalgie hat eine starke familiäre Komponente. Menschen mit Verwandten ersten Grades, die daran leiden, haben im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung ein 8-fach höheres Risiko, ebenfalls an Fibromyalgie zu erkranken.5 Autoimmunkrankheiten sind ein weiterer gut dokumentierter Risikofaktor: Bis zu 65 % der Patienten mit systemischem Lupus erythematodes und 57 % der Patienten mit rheumatoider Arthritis leiden an Fibromyalgie.6 Zwillingsstudien zeigen, dass das Risiko für die Entwicklung von Fibromyalgie gleichmäßig zwischen Umwelt- und genetischen Faktoren verteilt ist.2

 

Ursachen

Obwohl es eine Vielzahl an Risikofaktoren gibt, ist die genaue Ursache von Fibromyalgie unbekannt.12 Man nimmt an, dass sie hauptsächlich als Folge einer ZNS-Dysregulation auftritt.1 Das neuroendokrine und autonome Nervensystem – mit einem besonderen Schwerpunkt auf der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse und dem Stresshormon Cortisol1 – wurden ebenfalls in Betracht gezogen. Ein anderer Schlüsselfaktor, von dem man annimmt, dass er zur Entwicklung einer Fibromyalgie beiträgt, ist eine genetische Disposition, die assoziiert ist mit Funktionsstörungen des Nervensystems, häuslichem oder beruflichem Stress, einem traumatischen Ereignis in der Vergangenheit oder mit einer traumatischen Erfahrung.13

Merkmale und Symptome

Muskel-Skelett-Schmerzen sind das Hauptmerkmal der Fibromyalgie.5 Die Patienten haben ausgeprägte diffuse, multifokale Schmerzen, die zu- und abnehmen.5 Neben tiefen Muskelschmerzen haben Betroffene bereits Schmerzen bei leichter Berührung. Man hat 18 extrem empfindliche Körperregionen („Tender Points“) als charakteristisch für Fibromyalgie identifiziert (siehe Abschnitt Diagnose).1,5 Andere häufige Symptome sind Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Erschöpfung, kognitive Leistungseinbußen, Reizdarmsyndrom, Stimmungsbeeinträchtigungen sowie Gelenksteifheit.1,2,5

 


 

 

 

Pathophysiologie

Man nimmt an, dass Fibromyalgie vorwiegend eine Störung der zentralen Schmerzverarbeitung ist, die zu übersteigerten Reaktionen auf schmerzhafte Reize (Hyperalgesie) und Schmerzen bei an sich nicht schmerzhaften Reizen (Allodynie) führt.5 Die zentrale Sensibilisierung wird als Hauptfaktor für die Entstehung der Fibromyalgie angesehen. Die Überreaktion hat mit einer gestörten Signalübertragung im zentralen Nervensystem (ZNS) zu tun.1 Diese überaktivierte ZNS-Signalübertragung kann auf das so genannte „Wind-up-Phänomen“ zurückgeführt werden, das eine erhöhte Erregbarkeit von Rückenmarkneuronen beschreibt.1 Dadurch nehmen Betroffene nach einem schmerzhaften Reiz nachfolgende Reize gleicher Intensität als stärker wahr. Dies ist ein natürliches Phänomen, das jedoch bei Fibromyalgie-Patienten ins Extreme geht.1, 5

Absteigende inhibitorische Schmerzwege, die die Reaktionen auf schmerzhafte Reize modulieren, sind bei Fibromyalgie-Patienten beeinträchtigt. Dies verschlimmert die zentrale Sensibilisierung noch.1

 

 

 

Die verstärkte Schmerzverarbeitung bei Fibromyalgie ist auf ein Ungleichgewicht verschiedener Neurotransmitter zurückzuführen, die die „Regulierung des Umfangs“ der Schmerzverarbeitung bestimmen. Niedrige Konzentrationen hemmender Neurotransmitter könnten zu einem geschwächten nozizeptiven System führen, während Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer möglicherweise die antinozizeptive Aktivität erhöhen. Die Spiegel von Neurotransmittern, die die Schmerzübertragung verstärken, wie Substanz P, Glutamat/exzitatorische Aminosäuren und Nervenwachstumsfaktor, sind bei Fibromyalgie erhöht und tragen wahrscheinlich zu einer erhöhten Aktivität in aufsteigenden Schmerzübertragungswegen bei. Alpha-2-Delta-Liganden könnten die Freisetzung exzitatorischer Neurotransmitter verringern. Adaptiert von Schmidt-Wilcke T & Clauw DJ. Nat Rev Rheumatol. 2011;7:518–27.

Diagnose

Früher stützte man die Diagnose von Fibromyalgie auf zwei vom American College of Rheumatology (ACR) anerkannte Hauptkriterien:1,16

  1. Großflächige muskuloskelettale Schmerzen von mindestens 3 Monaten in der Vorgeschichte (die großflächigen Schmerzen müssen auf beiden Körperseiten sowie über und unter der Taille auftreten).
  2. Reaktion auf 11 der 18 für Fibromyalgie definierten Tender Points.

2010 entwickelte das ACR ein aktualisiertes Diagnosetool. Dieses verzichtet auf die Identifizierung der Tender Points und berücksichtigt Begleitsymptome wie Erschöpfung und Darmerkrankungen.7 Die neuen Kriterien orientieren sich am Schweregrad von Symptomen (SS) (0–12) wie Erschöpfung und kognitiven Problemen, der Anzahl somatischer Symptome sowie einem Index für großflächige Schmerzen (WPI; 0, 1–3, 4–6, ≥ 7). Dieser lässt sich auch zur Beobachtung der Entwicklung der Erkrankung heranziehen.7

Nichtsdestotrotz bleibt die Diagnose von Fibromyalgie eine Herausforderung. In der Regel dauert es mehr als zwei Jahre und erfordert vier Konsultationen bei verschiedenen Ärzten, bis sie gestellt wird.17

 

  

Management

Leitlinien und Empfehlungen

Die Fibromyalgie-Behandlung konzentriert sich auf die Linderung der Schmerzen und die Verbesserung des Schlafs sowie der körperlichen Funktionen.1 Aufgrund der Kombination genetischer und umweltbedingter Ursachen ist ein vielfältiger Behandlungsansatz erforderlich.1 Nichtpharmakologische Optionen, die durch einen gewissen Grad an Evidenz gestützt werden, umfassen kognitive Verhaltenstherapie, Aerobics, Krafttraining, Tai-Chi, Hydrotherapie, Akupunktur und Spa-Therapie.1,17

Bisher hat die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) keine Medikamente zur Behandlung von Fibromyalgie zugelassen und nur drei Arzneimittel sind von der US-amerikanischen Food and Drug Administration bewilligt worden: Duloxetin, Milnacipran und Pregabalin.1,18 Es gibt keine aktuellen Richtlinien, die Opioide zur Behandlung von Fibromyalgie empfehlen, da biochemische und bildgebende Daten darauf hindeuten, dass die opioiderge Aktivität bei Fibromyalgie normal oder erhöht ist.1

Die Europäische Liga gegen Rheuma (EULAR) empfiehlt ein schrittweises Management, das sich zunächst auf nichtpharmakologische Optionen konzentriert.17 Kommt es so zu keiner adäquaten Linderung, kann ein pharmakologischer Ansatz versucht werden. Um beispielsweise eine Stimmungsbeeinträchtigung, starke Schmerzen oder Schlafstörungen zu behandeln, sollte die Medikation je nach Patient individuell angepasst werden. Aktuell verfügbare Therapien werden nur durch sehr wenige Belege unterstützt.17

Link zu aktuellen Empfehlungen für das Management – EULAR

 

Pharmakologische und nichtpharmakologische Behandlungen

In der Rheumatologie betrachtet man Fibromyalgie traditionell als „zentrales Schmerzsyndrom“.19 Man konnte jedoch eine Reihe von Fibromyalgie-Patienten mit komorbider Kleinfaserneuropathie identifizieren, was auf die Beteiligung neuropathischer Mechanismen hinweist.6,19 Eine alternative Hypothese sieht Fibromyalgie als stressbedingte Dysautonomie mit neuropathischen Schmerzmerkmalen.19 Dies würde dorsale Wurzelganglien als potenzielle autonome nozizeptive Kurzschlussstellen implizieren und somit bedeuten, dass dorsale Wurzelganglien-Natriumkanalblocker als potenzielle analgetische Medikamente gegen Fibromyalgie infrage kommen.19

Der ausgedehnte, tiefe Schmerz bei Fibromyalgie kann eine Folge von chronischem psychischem Stress mit autonomer Dysregulation sein.20 Stress und die damit verbundenen ischämischen Schmerzen sind von grundlegender Bedeutung für die vielfältigen Symptome der Fibromyalgie.20 Ein therapeutisches Verfahren, das Stress und periphere Vasokonstriktion abschwächt, sollte hier also von Vorteil sein.20 Es hat sich gezeigt, dass körperliche Betätigung der peripheren Vasokonstriktion entgegenwirkt, Stress, Depressionen und Müdigkeit vermindert sowie die mentale Aktivität und Schlafqualität verbessert.20 Bewegung kann demnach die Wechselwirkungen zwischen psychischem Stress und den fibromyalgiebedingten Multisystemstörungen unterbrechen.20

Ungedeckte medizinische Bedürfnisse

Derzeit gibt es keine von der EMA zugelassenen Behandlungen für Fibromyalgie. Somit besteht hier nach wie vor ein großer Bedarf an einer gezielten Therapie.18 Die schlechte Datenlage aufgrund nicht repräsentativer Populationen in klinischen Studien wirkt sich deutlich auf die Arzneimittelentwicklung in diesem Bereich aus. Darüber hinaus ist klar, dass Fibromyalgie eine vielschichtige Krankheit ist, die einen individualisierten Managementansatz erfordert, der nichtpharmakologische und pharmakologische Modalitäten sowie eine umfassende Aufklärung der Patienten umfasst. Dabei müsste man sowohl die verschiedenen Mechanismen, die zur Erkrankung beitragen, als auch Komorbiditäten der Patienten und deren zusätzliche Bedürfnisse berücksichtigen.15

Ressourcen

 

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  • Quellen

    1. Bellato E et al. Pain Res Treat. 2012;2012:426130.

    2. Clauw DJ. JAMA. 2014;311(15):1547–55.

    3. Marques AP et al. Rev Bras Reumatol Engl Ed. 2017;57(4):356–63.

    4. Jahan F et al. Oman Med J. 2012;27(3):192–95.

    5. Clauw DJ et al. Am J Med. 2009;122(12):S3–S13.

    6. Buskila D & Sarzi-Puttini P. Isr Med Assoc J. 2008;10(1):77–8.

    7. Graystone R et al. Semin Arthritis Rheum. 2019;48(5):933–40.

    8. Wolfe F et al. Arthritis Care Res. 2010;62:600–10.

    9. Branco JC et al. Semin Arthritis Rheum. 2010;39(6):448–53.

    10. Kashikar-Zuck S & Ting TV. Nat Rev Rheumatol. 2014;10(2):89–96.

    11. Muraleetharan D et al. Am J Mens Health. 2018;12(4):952–60.

    12. National Health Service. Fibromyalgia. Causes. 2019. Available at: https://www.nhs.uk/conditions/fibromyalgia/causes. Accessed May 2020.

    13. InformedHealth.org [Internet]. What is known about the causes of fibromyalgia? Cologne: Institute for Quality and Efficiency in Health Care (IQWiG). 2018. Available at: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK492983/?report. Accessed May 2020.

    14. Wikimedia Commons. Fibromyalgia.jpg. 2010. Available at: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Fibromyalgia.jpg. Accessed May 2020.

    15. Schmidt-Wilcke T & Clauw DJ. Nat Rev Rheumatol. 2011;7:518–27.

    16. Wolfe F et al. Arthritis Rheum. 1990;33:160–72.

    17. Macfarlane GJ et al. Ann Rheum Dis. 2017;76:318–28.

    18. Acquadro C et al. Value Health. 2015;18:A335–766.

    19. Martinez-Lavin M et al. Clin Rheum. 2018;37:3167–71.

    20. Vierck CJ et al. Pain Res Treat. 2012;2012:951354.